Am Karfreitag gingen wir in die Kreuzkirche, Matthäus Passion. Ich hatte Teile daraus im Tenor des Chors in Schondorf gesungen, ich kannte das Werk aber schon aus Kindheitstagen und das war kurios:
Unsere Großmutter hörte nur ein Mal im Jahr Radio und dann auch noch den kommunistischen Deutschlandsender. Das war am Karfreitag, um die Übertragung aus der Kreuzkirche zu hören. Umständlich wurde der Radioapparat ihrer Haushälterin in ihrem Wohnzimmer aufgebaut und dann ließ man die Aufzählung der DDR Würdenträger über sich ergehen, die dem Konzert die Ehre gaben. In Großmutters Salon begann dann immer eine Diskussion darüber, wie man als Kommunist christliche Musik anhören könne.
In der Kreuzkirche habe ich die Matthäus zum ersten Mal ganz und live gehört. Ich war begeistert. Das war ich eigentlich schon beim Eintreten so. Die Kirche war wiederaufgebaut worden. Außer einem Kreuz und dem Altar war der Raum vollkommen schmucklos, die Wände bedeckte grauer Rauhputz. Der ich die überbordende Freude aus Balthasar Neumanns Basilika der Vierzehnheiligen gewöhnt war, sah zum ersten Mal, dass Kirche auch ohne Bilder und Darstellungen geht: Du sollst dir kein Bildnis machen!
Dann aber begann der Kreuzchor. Wir saßen auf der rechten Empore und ich konnte nicht nur hören sondern auch sehen, was da passierte. Nie zuvor hat mich Musik so unmittelbar getroffen und betroffen wie an diesem Karfreitag in Dresden. Ich war vollkommen ein- und mitgenommen, merkte gar nicht, dass ich mitsang. Ein Knuff meiner Freundin holte mich in die Welt zurück.
Am Nachmittag ging ich allein in den großen Garten. Ich war es ja schon gewohnt, dass ich mit meinem grünen Lodenmantel drei Meilen gegen Schneesturm als Westler erkennbar war, dennoch erstaunte es mich, als sich zwei Steppkes von vielleicht 8 Jahren vor mir aufbauten: „Du kommst aus dem Westen“, stellten sie fest. Sie erzählten mir dann, wie schrecklich es dort sei, Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, Militarismus, Kapitalismus und überhaupt…
Schließlich fragten sie mich, was denn mein Vater so mache. Das indoktrinierte Gebrabbel der beiden Buben hatte mich ziemlich verstört und so holte ich zum Konterschlag aus: „Mein Vater ist Großgrundbesitzer und wohnt in einem Schloss:“
Die Kinnlade der beiden klappte runter und nachdem sie sich vom Schrecken erholt hatten und den offenbaren Märchenprinzen in mir erkannt hatten, fragten sie: „Hat dein Vater Gold?“ „Haufenweise“, log ich. Ich spüre noch heute das kindische Glück in mir, mich konterrevolutionär, revisionistisch und staatsgefährdend benommen zu haben.
Später fuhren wir mit dem Wartburg des Ingenieurs zum Blauen Wunder. Er erklärte mir die technische Meisterleistung des Brückenbaus. Immerhin habe ich so viel verstanden, dass die Brücke tatsächlich blau war.
Damals wurden die Autofahrer gezwungen, sich ins Rückfenster ein DDR Schild zu kleben. Der Missmut war allgemein, denn wozu brauchte man ein internationales Kennzeichen, wenn man nicht ins Ausland fahren durfte? Unser Ingenieur hatte sich den Aufkleber nur auf die Hutablage gelegt, wo er bei jeder Kurve hin und her rutschte. “Die DDR kommt ins Wanken!“ sagte er jedes Mal und freute sich.
Auf der Rückfahrt mit der Bahn sprach mich ein Mann mal wieder darauf an, dass ich wohl aus dem Westen käme. Er sei auch aus dem Westen, er sei in die DDR ausgewandert.
Ich traute meinen Ohren nicht, was ihn denn dazu bewogen habe, erwiderte ich. Erneut traute ich meinen Ohren nicht: „Ich bin homosexuell. Als man in der DDR den § 175 abgeschafft hat, bin ich rüber gegangen. Ich bin Druckergeselle, das kann ich hier genauso wie im Westen machen, Mir gefällt, dass der Staat in meinem Schlafzimmer nichts zu suchen hat.“
Es war der erste Mann, den ich erlebte, der offen zu seiner Homosexualität stand. In Plauen steig er aus, und als wir uns verabschiedeten, kniff er ein Auge zu und sage: „Trotzdem, grüß mir den Westen!“